Es gibt unzählige Städte, an denen ich bei meinen Fahrten durch Ländle schon oft achtlos vorbeigefahren bin. "Da ist ja doch nix los" bekommt man von überall und jedem gesagt. So bildet sich dann auch eine Vorverurteilung. Vielleicht unbewußt. Chemnitz gehört sicher genau in diese Kategorie. Da muß man nicht unbedingt hin. Falsch, ich mußte hin. Und ich war auch dort.
Kaum von der Autobahn herunter, umgibt mich aber schon Halbherzigkeit. Die seit der Wende durchgeführten Baumaßnahmen sind im Innenstadtbereich sehr wohl angekommen. Breite, gut ausgebaute Straßen führen in die City. Die Gebäude entlang dieser Straßen sind fast alle in tadellosem Zustand. Hier wurde kräftig investiert. Aber nicht nur die Neubauten sind beeindruckend, auch für die Sanierung von alten Bauwerken wurde so manche D-Mark oder mancher Euro in die Hand genommen. Und selbstverständlich - wie überall in den größeren Städten und Zentren eine ganze Menge Investoren und Glücksritter, die gleich nach der Wende auf die Subventionen aus waren und die Stätte ihres Wirkens verwüstet zurückgelassen hatten. Namhafte Firmen (wie ich später erfuhr) waren an Subventions-"Geschäften" beteiligt. Die Kuh wurde eindeutig zu lange gemolken. Und unsere Berliner Finanzhüter merkten von all dem nichts. Der Topf war leer und die Firmen waren weg. Zurück blieben Versprechungen und Ruinen, halbfertige Bauten und eingestellte Sanierungen. Zurück blieben auch enttäuschte Bürger, die auf die blühenden Landschaften warteten. Die Meisten warten noch heute.
Chemnitz, einst berühmte und geschäftige Industriestadt weist heute eine Arbeitslosenquote von fast dem Doppelten des bundesdeutschen Durchschnittes auf. Viele Familien sind weggezogen. Zu DDR-Zeiten gab es keine Arbeislosen. Das sah das System einfach nicht vor. Und weil nicht sein kann, was nicht sein darf, waren alle in Arbeit und Lohn. Im wirtschaftlichen System des westlichen Kapitalismus gibt es solche "Vollbeschäftigung" nicht. Und das traf auch die heute noch ca. 17.000 Arbeitssuchenden im ehemaligen Karl-Marx-Stadt, als die wirtschaftlich völlig unrentablen Betriebe geschlossen wurden. Mein Gastgeber führte mich stolz in das Museum in der Zwickauer Straße.
Hier, im sächsischen Industriemuseum, wird wohl der Vergangenheit nachgeweint. Hier stehen die Artefakte längst vergangener Tage herum und harren der Besucher, die sich für nostalgische Autos, Schreibmaschinen und
Lokomotiven oder eine Dampfmaschine, die aus Kostengründen nicht mehr betrieben werden kann, interessieren.
Bei mir entstand der Eindruck, daß hier die Vergangenheit eher betrauert als gefeiert wird.
Und nicht nur hier drinnen scheint die Zeit stehngeblieben zu sein. Wenige Meter neben dem Museum - auf der gegenüberliegenden Straßenseite- wurde gerade ein Trümmergrundstück mit Planierraupen "platt gemacht".
Es sollte sicher kein Mahnmal werden, das hier seit 1945 - bis auf die üblichen Schmierereien und Graffitis neueren Datums- fast unberührt und abgesperrt herumstand- oder lag. Die Gegensätze sind krass.
Nur wenige Meter entfernt, auf der gleichen Straße gegenüber, moderne Autohäuser, die hier Nobelmarken wie Bentley, Jaguar & Co. anpreisen. Diese Kluft war für mich doch etwas zu viel. Verläßt man aber die Hauptstraßen und geht oder fährt einmal die Nebenstraßen ab, erlebt man noch immer das unberührte DDR-Flair. Ostalgie in schlimmster Form. Straßen, die eigentlich nur aus Löchern bestehen. Ja, es war ein langer und harter Winter, aber der Flickerlteppich an Vertiefungen hat seinen Ursprung nicht in den letzten 4 Monaten. Mühsam angetünchte Plattenbauten sollen den düsteren Eindruck, den sie trotzdem noch immer vermitteln, etwas erträglicher machen. Und immer wieder verrottende, unbewohnte Gebäude. Einzelne Stellen wohlgemerkt. Ich weiß auch nicht, was mir mein "Fremdenführer" damit zeigen und bedeuten wollte. Ich bin keineswegs der Richtige solche Probleme zu lösen. Und Investor bin ich schon gar keiner.
Als letzte und bleibende Erinnerung bekam ich noch den Karl präsentiert. Was den Marx jetzt so besonders mit Chemnitz verbunden hatte, daß die Stadt auch noch ihren Namen lange Jahre hergeben mußte, weiß ich nicht. Bin mir aber fast sicher, daß es in den Kommentaren bald eine Erklärung geben wird.
Karl Marx hat auch Jahre nach dem Kommunismus (oder sollte ich Sozialismus sagen?) ein gepflegtes Äußeres.
Die riesige Büste auf dem Marmorsockel steht finster und grimmig dreinblickend vor einem (inzwischen) hellen und freundlichen Gebäude. Ebenfalls groß.
Das mußte auch so sein, sonst hätte man die Proletarier aller Länder sicher nicht so umfangreich und international auffordern können sich zu vereinigen.
Mir wurde berichtet, daß der Marx nach der Wende durchaus zur Disposition stand. Vielleicht schaut er ja deswegen so mürrisch drein? Oder ist es, weil seine grundsätzlichen Ideen verfremdet und gescheitert waren? Zunächst wollte man nach der Wende wohl nicht mehr viel an seine Theorien glauben. Bis auf ein paar Hartgesottene natürlich. Es geschah aber nichts. Irgendwie konnte ich aus der sächsischen Betonung heraushören, daß viele Karl-Marx-Städter aber durchaus froh sind, daß alles so stehen geblieben ist. Man kann ja nie wissen, wofür es noch einmal gut sein wird. Außerdem ist es ja ein Stück junger Geschichte.
Der Bahnhof war erreicht, die Rückfahrt stand an. Der Karl hatte noch einmal viel Zeit gekostet und so war ich recht knapp mit derselben. Ich eilte Richtung Bahnsteig, mußte jedoch schnell noch den aktuellen Zustand im Bild festhalten.
Der total geschundene Fliesenbelag in der Halle könnte aus der 20er oder 30er Jahren der 20. Jahrhunderts stammen. Mit Borten und Bordüren war damals die Halle bestimmt ein optischer Gaumenschmaus.
Heute nur noch Flicken und grauer Beton. Aber es tut sich was. Zunächst einmal auf bzw. an den Bahnsteigen. Da wird kräftig gewerkelt.
Bleibt zu hoffen, daß sich die Sanierung dann auch Richtung Eingang bald fortsetzt.
Das war nur ein Blitzlicht. Eine Sekunde aus der Stadtgeschichte. Eine Momentaufnahme, die zeigt, daß auch nach 20 Jahren deutsche Einheit noch lange keine Einheit besteht. Nicht wirtschaftlich, nicht in der Entwicklung und auch nicht in vielen Köpfen.